„Mein Kind ist hochbegabt, aber die Noten sind mittelmäßig.“
„Ich wurde als Kind getestet, aber so richtig erfolgreich bin ich nicht.“
Solche Sätze höre ich in meiner Arbeit immer wieder. Dahinter steckt oft Verwirrung, manchmal auch Enttäuschung oder Selbstzweifel. Die gute Nachricht: Hochbegabung und Hochleistung sind zwei verschiedene Dinge. Und das ist völlig normal.
Das Missverständnis: IQ = Erfolg?
Viele Menschen glauben, dass ein hoher IQ automatisch zu herausragenden Leistungen führt. Doch die Realität sieht anders aus. Hochbegabung bedeutet zunächst nur eines: ein überdurchschnittliches kognitives Potenzial. Ob dieses Potenzial sich in tatsächliche Leistung umsetzt, hängt von weiteren entscheidenden Faktoren ab.
Der amerikanische Bildungsforscher Joseph Renzulli hat das bereits in den 1970er Jahren erkannt und ein Modell entwickelt, das bis heute wegweisend ist: das Drei-Ringe-Modell der Hochleistung.
Die drei Faktoren der Hochleistung
Renzulli zeigt, dass echte Hochleistung erst dann entsteht, wenn drei Faktoren zusammenkommen:
1. Überdurchschnittliche Intelligenz
Ja, Intelligenz spielt eine Rolle, aber interessanterweise muss der IQ gar nicht extrem hoch sein. Renzulli spricht von „überdurchschnittlich“, also etwa den oberen 15-20 Prozent. Das bedeutet: Ein IQ von 115-120 kann bereits ausreichen, wenn die anderen beiden Faktoren stark ausgeprägt sind.
Diese Fähigkeiten können allgemein sein oder sich auf bestimmte Bereiche konzentrieren. Jemand kann mathematisch brillant sein, ohne sprachlich herausragend zu sein.
2. Kreativität
Dieser Faktor wird oft unterschätzt, ist aber unverzichtbar. Kreativität bedeutet:
- Die Fähigkeit, neue Verbindungen herzustellen
- Originalität im Denken
- Mut, unkonventionelle Wege zu gehen
- Offenheit für neue Perspektiven
- Flexibilität bei der Problemlösung
Ohne Kreativität bleibt Intelligenz oft theoretisch. Es sind die kreativen Hochbegabten, die Innovation schaffen und neue Lösungen entwickeln.
3. Aufgabenzuwendung (Task Commitment)
Hier liegt oft der Knackpunkt! Aufgabenzuwendung umfasst:
- Ausdauer und Beharrlichkeit
- Intrinsische Motivation
- Selbstdisziplin
- Die Fähigkeit, sich auch durch Rückschläge nicht entmutigen zu lassen
- Leidenschaft für ein Thema
Und genau hier scheitern viele hochbegabte Menschen. Nicht, weil sie faul wären, sondern weil dieser Faktor von so vielen externen und internen Bedingungen abhängt.

Warum die Aufgabenzuwendung so oft fehlt
In meiner Coaching-Praxis sehe ich immer wieder, wie hochbegabte Kinder und Erwachsene mit der Aufgabenzuwendung kämpfen. Die Gründe sind vielfältig:
Bei Kindern:
- Unterforderung in der Schule führt dazu, dass sie nie lernen, sich anzustrengen.
- Fehlende Herausforderungen lassen keine echte Motivation entstehen.
- Langeweile wird als „Faulheit“ fehlinterpretiert.
- Das Selbstbild „Ich bin schlau, ich muss mich nicht anstrengen.“ wird zum Problem, sobald es schwieriger wird.
Bei Erwachsenen:
- Fehlende Sinnhaftigkeit der Aufgaben verhindert Engagement.
- Perfektionismus blockiert den Start („Wenn ich es nicht perfekt machen kann, fange ich gar nicht erst an.“ – Ein Klassiker!)
- Vielfältige Interessen erschweren die Fokussierung.
- Unterforderung im Job führt zu innerer Kündigung.
Das Problem mit unserem System
Hier kommt die Systemkritik: Unsere Schulen und auch viele Arbeitgeber erkennen oft nur den ersten Ring: die Intelligenz. Gute Noten, schnelle Auffassungsgabe, hohe Testwerte werden belohnt.
Aber:
- Kreativität wird im standardisierten Schulsystem häufig eher gebremst als gefördert.
- Echte intrinsische Motivation kann nicht entstehen, wenn Aufgaben sinnlos erscheinen.
- Beharrlichkeit entwickelt sich nur, wenn Herausforderungen angemessen sind.
Renzulli unterscheidet deshalb zwischen zwei Arten von Hochbegabung:
- Schoolhouse Giftedness: Die Fähigkeit, in Tests gut abzuschneiden und Schulaufgaben zu erledigen
- Creative-Productive Giftedness: Die Fähigkeit, in der realen Welt echte Innovation und Leistung zu erbringen
Das System fördert meist die erste Art, aber die Welt braucht die zweite.

Wie sich alle drei Faktoren fördern lassen
Die gute Nachricht: Alle drei Faktoren können entwickelt werden. Hier sind konkrete Ansätze:
Für Eltern hochbegabter Kinder:
- Kreativität fördern:
- Freies Spiel ohne Vorgaben ermöglichen
- Verschiedene Materialien und Erfahrungen anbieten
- Fragen stellen statt Antworten geben
- „Was wäre wenn“-Spiele spielen
- Aufgabenzuwendung entwickeln:
- Herausforderungen bieten, die anspruchsvoll, aber erreichbar sind
- Durchhaltevermögen vorleben und wertschätzen
- Mit dem Kind gemeinsam Interessen entdecken, die echte Begeisterung wecken
- Nicht für jeden Erfolg loben, sondern für Anstrengung und Prozess
Für hochbegabte Erwachsene:
- Kreativität wiederentdecken:
- Zeit für Experimente ohne Erfolgsdruck schaffen
- Neue Perspektiven durch andere Disziplinen gewinnen
- Brainstorming-Techniken nutzen
- Sich mit kreativen Menschen umgeben
- Aufgabenzuwendung aufbauen:
- Flow-Momente identifizieren und gezielt herbeiführen
- Projekte wählen, die wirklich bedeutsam sind
- Große Ziele in kleine Schritte zerlegen
- Unterstützungspartner suchen
- Perfektionismus hinterfragen: „Done is better than perfect.“
Der Unterschied zwischen Potenzial und Leistung
Am Ende geht es um diese Erkenntnis: Hochbegabung ist Potenzial. Hochleistung ist das Ergebnis.
Und zwischen beiden liegt ein Weg, der alle drei Faktoren braucht. Wenn du oder dein Kind hochbegabt seid, aber die erwarteten Leistungen ausbleiben, liegt das nicht an Faulheit oder mangelndem Willen. Es liegt oft daran, dass Kreativität und Aufgabenzuwendung noch nicht die Unterstützung bekommen haben, die sie brauchen.
Das Gute daran: Es ist nie zu spät, diese Faktoren zu entwickeln. Mit dem richtigen Verständnis, der passenden Umgebung und gezielter Förderung kann Potenzial zu Leistung werden – zu einer Leistung, die erfüllend ist und nicht nur auf dem Papier existiert.
Du möchtest herausfinden, wie du dein Potenzial oder das deines Kindes entfalten kannst?
In meinem Coaching unterstütze ich hochbegabte Menschen und Eltern hochbegabter Kinder dabei, alle drei Faktoren zu stärken und den individuellen Weg zur Hochleistung zu finden. Nicht nach Schema F, sondern passend zu deiner einzigartigen Situation.
Lass uns in einem unverbindlichen Erstgespräch herausfinden, welche Faktoren bei dir oder deinem Kind bereits stark ausgeprägt sind und wo noch Entwicklungspotenzial liegt.
Ich freue mich darauf, dich kennenzulernen!




