Die stille Hochbegabung: Warum begabte Mädchen durch unser Raster fallen
„Sie ist so angepasst und brav.“ Ein Satz, der hochbegabten Mädchen oft zum Verhängnis wird. Während hyperaktive, störende Jungen schneller auffallen und diagnostiziert werden, bleiben hochbegabte Mädchen und Frauen häufig ein Leben lang unentdeckt. Das hat weitreichende Folgen für ihre Entwicklung, Karriere und psychische Gesundheit.
Das Problem: Hochbegabung bei Frauen wird systematisch übersehen
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Nur etwa 30-40% der diagnostizierten Hochbegabten sind weiblich! Und das obwohl die genetische Verteilung bei beiden Geschlechtern gleich sein sollte.
Aus meiner Praxis: Ein alarmierendes Muster
Diese Statistik ist keine graue Theorie. Ich sehe sie täglich in meiner Arbeit. Laut Auswertungen von Mensa Germany sind nur etwa ein Drittel der Vereinsmitglieder Frauen, zwei Drittel Männer.
Genau dieses Verhältnis zeigt sich in meiner Begabungsdiagnostik: Doppelt so viele Jungen wie Mädchen werden bei mir vorgestellt. Aber, und das ist der entscheidende Punkt, bei meinen Treffen für „spät Erkannte“ dreht sich das Bild völlig um: Hier ist die Frauenquote signifikant höher.
Diese Frauen wurden in ihrer Kindheit nicht erkannt. Erst im Erwachsenenalter, wenn Probleme deutlich werden oder sie unter psychischen Phänomenen leiden, finden sie zur Diagnose.
Eine Szene, die sich wiederholt
Immer wieder führe ich Gespräche mit Müttern, die ihren Sohn zum Test anmelden. Sie erzählen nebenbei von den anderen Geschwistern. Mädchen, teilweise sogar älter als der Bruder. Ich frage nach: „Haben Sie denn Ihre Töchter ebenfalls getestet oder planen Sie das?“
Die Antwort kommt meist ohne zu zögern: Nein. Die Mädchen seien garantiert nicht hochbegabt. Sie lassen nur ihren Sohn testen.
Das berührt mich. Jedes Mal.
Dieser Gender-Gap in der Diagnostik ist kein Zufall, sondern das Ergebnis tief verwurzelter Mechanismen.
Warum hochbegabte Mädchen unsichtbar bleiben
Wer aneckt, bekommt Aufmerksamkeit, wer sich anpasst, bleibt unsichtbar.
Das ist die Kernursache, die ich immer wieder beobachte:
1. Perfektes Masking von Kindheit an
Mädchen sind oft Meisterinnen im Maskieren und Anpassen. Sie fliegen unter dem Radar, und das mit System:
- Der soziale Aspekt und die Peergroup scheinen deutlich wichtiger zu sein.
- Sie geben oft lebenslang alles, um nicht aus dem Rahmen zu fallen.
- Dazugehören wird zum obersten Ziel, oft auf Kosten der eigenen Authentizität.
- Sie dämpfen ihre Leistungen, um nicht „anders“ zu sein.
- Sie entwickeln ausgefeilte Strategien der Tarnung bereits im Grundschulalter.

2. Andere Verhaltensweisen als bei Jungen
Während hochbegabte Jungen oft durch Verhaltensprobleme auffallen, zeigen Mädchen:
- Überanpassung statt Opposition
- Perfektionismus statt Verweigerung
- Inneren Rückzug statt äußere Rebellion
- Psychosomatische Beschwerden statt Aggression
3. Stereotype Erwartungen
- Lehrkräfte erwarten von Mädchen „Fleiß“, nicht „Begabung“
- Erfolge werden dem Lerneifer zugeschrieben, nicht der Intelligenz
- Mathematische und naturwissenschaftliche Begabungen werden besonders übersehen
- Das Klischee des „zerstreuten Genies“ ist männlich kodiert
Hochbegabung Masking: Die psychischen Kosten der Unsichtbarkeit
Das permanente Verstecken der eigenen Fähigkeiten hat einen hohen Preis:
Kurzfristige Folgen
- Chronische Unterforderung im Schulalltag
- Verlust des Zugangs zur eigenen Neugier und Lernfreude
- Soziale Isolation trotz äußerer Anpassung
- Entwicklung eines „falschen Selbst“
Langfristige Konsequenzen
- Impostor-Syndrom: Das Gefühl, nicht „wirklich“ intelligent zu sein
- Underachievement: Leistungen weit unter den Möglichkeiten
- Depressionen und Angststörungen: Aus jahrelanger Selbstverleugnung
- Berufliche Unterforderung: Trotz hoher Potenziale
- Beziehungsprobleme: Durch fehlende Authentizität
Hochbegabte Mädchen erkennen: Darauf solltest du achten
Typische Signale bei Mädchen
Intellektuelle Hinweise:
- Extrem breite Interessengebiete (oft auch „mädchenuntypische“)
- Tiefgründige philosophische Fragen bereits im Kindergartenalter
- Schnelle Auffassungsgabe, die sie aber zu verbergen lernen
- Perfektionismus bis zur Selbstblockade
- Hochdifferenziertes Sprachvermögen
Emotionale und soziale Signale:
- Hohe Empathie und Gerechtigkeitssinn
- Intensive emotionale Reaktionen
- Gefühl des „Andersseins“ ohne es benennen zu können
- Freundschaften mit älteren Kindern oder Erwachsenen
- Rückzug oder psychosomatische Beschwerden bei Unterforderung
Verhaltensweisen:
- „Untypische“ Interessen für ihr Geschlecht
- Hinterfragen von Regeln und Autoritäten (oft nur im geschützten Raum)
- Verbergen von Fähigkeiten in Gruppensituationen
- Starke Diskrepanz zwischen Verhalten zu Hause und in der Schule
Was hochbegabte Frauen oft erst spät entdecken
Viele Frauen erhalten ihre Hochbegabungsdiagnose erst im Erwachsenenalter, oft mit Mitte 30 oder 40. Typische Auslöser sind:
- Diagnostik der eigenen Kinder (und plötzliches Wiedererkennen)
- Therapie wegen Depression oder Burnout
- Berufliche Krisen trotz objektiver Erfolge
- Das Gefühl, „nie richtig angekommen“ zu sein
Die späte Diagnose löst oft eine Kaskade aus:
- Erleichterung: „Ich bin nicht falsch!“
- Trauer: „Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich es früher gewusst hätte?“
- Wut: „Warum hat das niemand gesehen?“
- Neuorientierung: „Was will ich jetzt wirklich?“
Hochbegabung bei Frauen: Der Weg aus der Unsichtbarkeit
Für betroffene Mädchen und Frauen
Selbsterkenntnis fördern:
- Informiere dich über weibliche Hochbegabung (Sie zeigt sich oft anders! Lies dazu auch meinen Blogbeitrag „Hochbegabung bei Frauen„)
- Erwäge eine professionelle Diagnostik bei spezialisierten Stellen
- Suche den Austausch mit anderen hochbegabten Frauen
- Arbeite mit Coaches und Therapeut:innen, die Hochbegabung verstehen
Authentizität zurückgewinnen:
- Erlaube dir, deine Fähigkeiten zu zeigen
- Entwickle Strategien gegen das Impostor-Syndrom
- Suche Umfelder, in denen du ganz sein kannst
- Setze dich mit deinem „Masking“ auseinander

Für Eltern und Pädagog:innen
Sensibilität entwickeln:
- Lerne die geschlechtsspezifischen Unterschiede kennen
- Achte auf „brave, angepasste“ Mädchen – sie brauchen oft am meisten Unterstützung
- Hinterfrage deine eigenen Stereotype über Begabung
- Beobachte Verhaltensänderungen zwischen verschiedenen Kontexten
Aktiv fördern:
- Ermutige Mädchen explizit, ihre Fähigkeiten zu zeigen
- Schaffe geschützte Räume für intellektuellen Austausch
- Thematisiere Gender-Stereotype in Bezug auf Intelligenz
- Biete weibliche Vorbilder und Mentorinnen
Die gesellschaftliche Dimension
Die Unsichtbarkeit hochbegabter Frauen ist nicht nur ein individuelles Problem:
- Volkswirtschaftlich: Ungenutztes Potenzial in Forschung und Innovation
- Gesellschaftlich: Mangel an weiblichen Vorbildern in MINT und Führungspositionen
- Kulturell: Verarmung durch fehlende Perspektiven und Ideen
- Gesundheitspolitisch: Unnötige psychische Belastungen und Fehldiagnosen
Fazit: Zeit für mehr Sichtbarkeit
Hochbegabte Mädchen und Frauen sind nicht seltener als hochbegabte Jungen und Männer, sie sind nur unsichtbarer. Diese Unsichtbarkeit ist das Ergebnis von Sozialisation, Stereotypen und einem männlich geprägten Verständnis von Hochbegabung.
Die gute Nachricht: Das Bewusstsein wächst. Immer mehr Fachleute, Schulen und Beratungsstellen sensibilisieren sich für geschlechtsspezifische Unterschiede in der Hochbegabung.
Jede erkannte und geförderte hochbegabte Frau ist nicht nur ein gewonnenes Leben, sie ist auch ein Vorbild für die nächste Generation von Mädchen, die ihre Fähigkeiten nicht mehr verstecken müssen.
Du vermutest eine Hochbegabung bei dir oder deiner Tochter?
Vertraue deiner Intuition. Es ist nie zu spät für Erkenntnis und der erste Schritt aus der Unsichtbarkeit!
Ich begleite dich gerne auf diesem Weg:
Wir klären gemeinsam deine Fragen und schauen, wie ich dich am besten unterstützen kann.
Professionelle Testung in einem geschützten Rahmen, der die Besonderheiten weiblicher Hochbegabung berücksichtigt.
Du bist nicht allein. Lass uns gemeinsam Klarheit schaffen.




