Underachievement. Wenn das Potenzial auf der Strecke bleibt.

Potential erkennen bei Hochbegabung.

Zu den intelligentesten Menschen der Welt gehören statistisch gesehen nur 2% der Bevölkerung. Doch nicht weniger als 15% von ihnen wird nachgesagt, dass sie ihre „PS nicht auf die Straße bringen“. Underachievement bedeutet, das eigene Potenzial nicht auszuschöpfen bzw. schlechte oder gar keine Leistungen zu erbringen. Underachievement ist ein Dauerthema unter Hochbegabten.

Häufig wird der Begriff „Underachiever“ für Schülerinnen und Schüler verwendet, die trotz eines sehr hohen Leistungspotenzials und einer überdurchschnittlichen Intelligenz über einen längeren Zeitraum nur mäßige oder schlechte Schulleistungen zeigen. Man spricht dann auch von erwartungswidriger Minderleistung. Und genau hier liegt ein großer Teil des Problems: in der Erwartungshaltung, sowohl von außen als auch von den Betroffenen selbst. Ein Phänomen, das auch vor Erwachsenen nicht Halt macht.

Dieser Artikel ist im August 2023 im Magazin “MinD” erschienen.

Underachievement bei Hochbegabten.

Im Kindesalter bezieht sich der Begriff „Underachievement“ auf Situationen, in denen das betroffene Kind nicht sein volles Potenzial ausschöpft. Dies kann sich auf verschiedene Bereiche beziehen, wie z.B. schulische Leistungen, soziale Fähigkeiten oder kreative Begabungen. Lernschwierigkeiten, Motivationsprobleme, Lebensumstände, Umweltfaktoren, Über- oder auch Unterforderung – es gibt eine Vielzahl von Gründen, warum ein Kind nicht die erwartete Leistung erbringt. Die Praxis zeigt, dass die beiden größten Schwierigkeiten, mit denen Eltern hochbegabter Kinder konfrontiert sind, schulischer und sozialer Natur sind. Underachievement beginnt häufig schon im Grundschulalter, wird aber oft erst in der Sekundarstufe und in der Pubertät zu einer echten Herausforderung für die Familie. Statistisch gesehen sind mehr Jungen als Mädchen von Underachievement betroffen.

Hochbegabung bei Kindern ist für Familien eine Herausforderung.

Underachievement im Erwachsenenalter.

Das Problem der „Leistungsschwäche“ verschwindet nicht immer. Eine Einstellung oder ein Verhalten, das in der Kindheit beginnt und teilweise perfektioniert wird, setzt sich nicht selten im Erwachsenenalter fort. Die Unfähigkeit, Leistung zu erbringen, kann sich weiterhin auf verschiedene Lebensbereiche auswirken, wie z. B. auf das Studium oder die Ausbildung, die berufliche Karriere, aber auch auf persönliche Ziele, soziale Beziehungen oder den finanziellen Erfolg. Mangelnde Zielvorstellungen, fehlende intrinsische Motivation, aber auch Versagens- oder Erfolgsängste können Gründe dafür sein. Häufig ist eine negative Selbstwahrnehmung oder ein mangelndes Selbstwertgefühl bereits in der Kindheit verankert.

Aber auch besondere Lebensumstände, mangelnde Unterstützung oder fehlende Ressourcen beeinträchtigen die Leistungsfähigkeit.

Über die Hintergründe und Faktoren.

Auch wenn es bei Erwachsenen z.B. durch Schicksalsschläge oder Krankheit zu einem plötzlichen Leistungsabfall kommen kann, möchte ich mich in diesem Beitrag auf die Underachiever konzentrieren, die bereits seit ihrer Kindheit unter diesem Phänomen leiden und später auf zwei Konstellationen eingehen: Zum einen auf diejenigen, bei denen die Hochbegabung bereits im Kindesalter festgestellt wurde, und zum anderen auf die Spätentdeckten. Unabhängig vom Bewusstsein einer Hochbegabung zeichnen sich intelligente Kinder häufig auch dadurch aus, dass sie Situationen sehr schnell und ganzheitlich erfassen und die erlebten Reaktionen darauf speichern können. Nicht selten sind diese Kinder auch wahre Meister darin, Gefühle und Stimmungen anderer wahrzunehmen. All dies geschieht jedoch in der Regel nicht bewusst.

So wird schon früh der Grundstein dafür gelegt, wie Reaktionen und der Umgang mit der eigenen Neugier, kritischem Hinterfragen und Leistung im Gehirn angelegt werden. In einer liebevollen, offenen Umgebung, in der das Kind so angenommen wird, wie es ist, gibt es in der Regel keine Probleme. Doch mit dem Eintritt in unser Schulsystem beginnt oft eine lange Leidensgeschichte. Hier entsteht zum ersten Mal ganz konkret Konformitätsdruck: Es gilt, sich den Erwartungen von Lehrern, Eltern und Mitschülern anzupassen.

Fight, flight, freeze.

Spätestens hier wird der innere Kompass des wissbegierigen Kindes auf den Kopf gestellt. Wissensdurst, Schnelligkeit, Gerechtigkeit, eigene Interessen – all das, was Hochbegabung und damit einen großen Teil der Persönlichkeit des Kindes definiert, hat in unserem Schulsystem einen ganz anderen oder gar keinen Stellenwert mehr. Schlimmer noch: Vieles von dem, was Hochbegabung ausmacht, wird heute noch bestraft. Mit Ampelsystemen, dem Wegnehmen von Murmeln, später mit Verweisen oder Nachsitzen. Ob im Elternhaus, im Kindergarten oder in der Schule. Wenn die eigene Existenz grundlegend in Frage gestellt wird und damit das eigene Überleben in Gefahr gerät, reagiert der Mensch seit jeher mit einer von drei Möglichkeiten: „fight, flight or freeze“. So finden wir die Kämpfenden, die Revoluzzer unter den Kindern, die Flüchtenden, also die Kinder, die oft gar nicht mehr zur Schule gehen, Vermeidungsstrategien finden oder eben die dritte Variante, die Erstarrenden. Das kann je nach Situation unterschiedlich sein.

Hochbegabte Kinder haben es nicht leicht in der Schule.

Müssen die PS auf die Straße?

Bleiben wir bei der beliebten Metapher der PS, die nicht auf die Straße gebracht werden können. Das Kind, dessen PS bekannt sind, sieht sich in unserer Gesellschaft immer noch hohen Erwartungen ausgesetzt. Es hält sich hartnäckig das falsche Bild, ein hochbegabtes Kind müsse schon in jungen Jahren Opern komponieren, mathematische Formeln auf Universitätsniveau lösen oder zumindest mehrere Sprachen beherrschen. Das hochbegabte Kind muss sehr früh erfahren, dass es diesen – offensichtlich berechtigten – Erwartungen nicht gerecht wird. Wie deprimierend muss es sein, eigentlich zu spüren, dass man anderen kognitiv weit voraus ist, und doch immer wieder das Gegenteil gespiegelt zu bekommen. Die Offenheit, dass viele PS nicht immer unter der Haube eines Porsches stecken müssen, dass Züge oder Fähren viel mehr PS haben, fehlt in unserer Gesellschaft. Die Antwort auf die Frage nach dem Selbstwertgefühl liegt auf der Hand.

Underachievement bei Späterkannten.

Ähnlich geht es einem Kind, dessen Begabung nicht erkannt wird. In einem Umfeld, das mit großer Neugier und kritischem Hinterfragen weniger gut umgehen kann, wird sich auch dieses Kind immer falsch fühlen. „Du bist noch zu klein dafür“, „So ist das nun mal“, „Sei doch nicht immer so anstrengend“ führen genau zu diesen Verankerungen im Gehirn, im Unbewussten. „Ich bin zu klein“, „So wie ich bin, bin ich anstrengend, nicht gewollt, nicht geliebt“. Am Ende bleibt auch hier: So wie ich bin, bin ich nicht gut (genug).

Das Problem: Evolutionär gesehen ist das Kind ohne den Schutz der Eltern nicht überlebensfähig. Das Kind wird also alles tun, um die Liebe der Eltern zu erhalten und passt sich an. Es verinnerlicht diese Glaubenssätze als Wahrheiten, die uns bis ins hohe Alter, hier völlig unbewusst, begleiten. Eingebrannt in die Festplatte unseres Unterbewusstseins.

Wege aus der Erstarrung.

Ein erster wichtiger Schritt ist, wie bei den meisten psychologischen Themen, das Erkennen und Akzeptieren der Situation. Auch wenn es einfach ist: Die Schuld auf die äußeren Umstände zu schieben, auf das familiäre Umfeld, auf die Lehrerin oder den Lehrer, auf die Chefin oder den Chef, ist keine Lösung. Als Erwachsener ist man gefordert, selbst Verantwortung zu übernehmen. Erst dann können sich tiefsitzende Muster auflösen. Dafür gibt es verschiedene psychologische Ansätze. Wer schnelle Hilfe wünscht, kann die erlernte Strategie auch durch Coaching, z.B. durch Hypnose in Kombination mit Mentaltraining oder anderen Verfahren, auflösen. Das Spannende dabei ist, dass das Unterbewusstsein schon aus energetischen Gründen ein großes Interesse daran hat, hinderliche Blockaden loszuwerden.

Anders sieht es bei den Kindern aus. Hier sind wir als Eltern gefordert, Verantwortung zu übernehmen, unser Verhalten zu überdenken und aktiv zu werden. Unsere eigenen Muster aufzulösen. Unsere Kinder genauso anzunehmen, wie sie sind und ihnen genau das vorzuleben. Ihnen den Rücken zu stärken. Ihnen zu helfen, unser Schulsystem einigermaßen unbeschadet zu überstehen, ohne die Freude am Lernen und am Sein zu verlieren.

Eine große Aufgabe? Scheinbar unlösbar? Genau dafür gibt es unseren Verein. Um unseren Themen eine Plattform zu geben. Probleme anzusprechen und gemeinsam zu versuchen, neue Wege und Lösungen zu finden.

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