Was Hochsensible und Autisten verbindet

Was Hochsensible und Autisten verbindet

Unterschied zwischen Hochsensiblen und Autisten.

Im Alltag aber auch in der Klinik sind Hochsensible und hochfunktionale Autisten oft nicht zu unterscheiden. Auch Experten tun sich meist schwer. Doch woran liegt das eigentlich und gibt es eine klare Abgrenzung?

 

Nick ist 15 Jahre alt (Name geändert) und kommt wegen ständiger Kopfschmerzen und Erschöpfungszuständen in meine Praxis. Seine Eltern halten sich größtenteils raus und schicken ihn zu mir.

Nick ist extrem höflich und gebildet. Dies fällt gleich auf. „Entschuldigen Sie“ „Es tut mir leid, wenn ich Umstände bereite“ „Vielen lieben Dank“ und eine Flut von „Bitte“ und „Danke“ prägen unser Gespräch. Er beschreibt seine vielen Wahrnehmungen und die Tatsache, dass ihn Lautstärke und andere Reize sehr schnell stressen. Außerdem scheint er seine Mitmenschen sehr genau zu beobachten und macht sich viele Gedanken über ihre Verhaltensweisen. Er denkt ständig darüber nach wie er sich bei wem verhalten muss, um die Harmonie zu wahren. Sein Gerechtigkeitssinn ist sehr stark und er leidet unter Disharmonie und Ungerechtigkeit. Seine Wortwahl und Ansichten entsprechen dem eines Erwachsenen. Klassisch hochsensibel, eventuell auch hochbegabt ist mein erster Eindruck.

Auf die Frage, was er sich wünsche, wird er aber plötzlich still und schaut zu Boden. Das Blut schießt ihm ins Gesicht und die Anspannung ist an seinem ganzen Körper deutlich. Einige Minuten bringt er kein Wort heraus. Dann sagt er leise und unsicher: „Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Es tut mir leid, dass ich diese Frage nicht ehrlich beantworten kann.“

„Ist schon in Ordnung“, sage ich. „Wusstest du es denn mal?“

Immer noch schaut er zu Boden und scheint vor Anspannung sogar zu zittern. Dann fragt er, was ich seinen Eltern erzählen würde. Wir klären die Schweigepflicht. Nach einigem Zögern berichtet er:“ Ich glaube ich wusste es mal, aber ich erzähle so vielen Menschen so viele unterschiedliche Dinge, dass ich vergessen habe was meine eigene Meinung ist, oder ob ich überhaupt noch eine habe.“

Da kommt mir der Gedanke an Masking im Autismusspektrum. Er verstellt sich, so sehr, dass er seine eigenen Gedanken, Bedürfnisse und Wünsche nicht mehr greifen kann. Für jeden Menschen hat er eine eigene „Maske“ entwickelt und sich selbst dabei vergessen. Ein riesiger Leidensdruck lastet auf ihm und der Stress führt zu den körperlichen Symptomen.

Autisten haben für jeden Menschen die passende Maske.

Im weiteren Verlauf fallen mir noch mehr Dinge auf. Er kann mir nicht in die Augen schauen, über Gefühle sprechen fällt ihm schwer. Er beobachtet nicht nur seine Mitmenschen, sondern er berechnet sie, um die adäquate Reaktion seinerseits auszuloten. Klassische Anzeichen aus dem Autismusspektrum.

Doch warum waren 15 Jahre lang niemandem seine Symptome aufgefallen, die mir bereits in der ersten Sitzung auffielen? Wo waren die Kinderärzte, Neurologen, Lehrer und vor allem die Eltern in dieser Zeit? Warum mussten erst diese starken körperlichen Symptome auftreten, bevor jemand erkannte, was wirklich mit ihm los war?

Die Antwort ist so erschreckend wie auch simpel: Niemand kennt sich wirklich mit dieser Thematik aus! Im Psychologie Studium reduziert sich die Anzahl der Stunden zum Thema Autismus teils auf 90 Minuten. Hochsensibilität wird gar nicht erwähnt. Auch andere Neurodivergenzen kommen oft zu kurz. Im Medizinstudium sieht es nicht viel anders aus und auch Lehrkräfte haben oft nur oberflächliche Informationen.

Autismus wird oft nicht erkannt.

Doch wie erkennt man nun womit man es zu tun hat?

Hochsensibilität zeigt sich immer durch eine erhöhte Reizoffenheit und damit einer schnellen Überforderung, einem hohen Gerechtigkeitssinn und einer guten Sprachentwicklung. Eine sehr hohe Empathie und Liebe zur Natur, sowie einem hohen Ruhebedürfnis. Permanentes Denken und eine Abneigung gegen Menschenmassen finden wir ebenfalls.

Hochfunktionale Autisten wie Nick weisen oft die gleichen Eigenschaften auf. Bei Nick unterscheidet sich die Eigenschaft der Empathie allerdings von einem Hochsensiblen Menschen. Er berechnet die wahrscheinliche emotionale Reaktion eines Menschen und daraufhin seine eigene, die laut gesellschaftlichen Standards von ihm erwartet wird. Doch das geht so schnell, dass man es nicht sieht. Er muss seine Denkprozesse freiwillig preisgeben. Er fühlt nicht mit, er berechnet. Mit der gleichen Effizienz, die eine HSP durch Empathie hervorbringt. Eine erstaunliche Eigenschaft und eine enorme kognitive Leistung. Doch auch ein immenser Stressfaktor!

Dieses kleine Beispiel zeigt, wie stark die Überschneidungen sein können und wie schwierig es ist zu erkennen, womit man es überhaupt zu tun hat. Auf dem Überweisungsschein von Nick stand: Abklärung eines Post Covid Syndroms und eventuelle psychische Beteiligung. Der Fokus liegt meist auf dem was von außen zu sehen ist. Fast nie ist es wirklich das, was dahinter steht.

So lohnt es sich ganz genau hinzuschauen, womit man es zu tun hat, denn die Herangehensweise in der Gesprächsführung, in der Psychoedukation (Aufklärung) und in der Behandlung unterscheiden sich bei Autisten und Hochsensiblen teils deutlich voneinander.

Elaine Aron, die Begründerin des Begriffes Hochsensibilität stellte jüngst eine bislang nicht bewiesene These auf. Alle Asperger-Autisten seien hochsensibel laut den Kriterien, so die Vermutung.

Was ich persönlich zu dieser These denke? Gerade Hochsensibilität und das Asperger-Syndrom weisen extrem viele Überschneidungen auf, so wie auch bei Nick. Manche Autisten können sehr gut über Gefühle sprechen und sind auch empathisch. Die sogenannte Alexithymie (also die Unfähigkeit Gefühle anderer zu erkennen und darüber zu sprechen) ist zwar eines der Leitsymptome im Autismusspektrum, muss aber nicht da sein.

Laut den Diagnose Kriterien für das Asperger-Syndrom steht die schnelle Überreizung durch Reizoffenheit ganz oben auf der Liste, ebenso wie bei Hochsensiblen. Doch wie unterscheiden sich dann Asperger Autisten von Hochsensiblen? Man geht davon aus, dass Hochsensible etwas resilienter sind und mit den Eigenschaften anders umgehen. An dieser Stelle haben Autisten größere Herausforderungen zu überwinden. Die autistischen „Meltdowns“ (also das Ausklinken und gar nichts mehr aufnehmen können) kommen unter Umständen auch bei Hochsensiblen vor. Doch meist sind sie weniger stark ausgeprägt und gehen schneller vorbei.

Ein sehr gut aufgeklärter und resilienter Autist kann aber durchaus als hochsensibel bezeichnet und verwechselt werden. Wir sehen, es ist selbst für Experten sehr schwierig und nicht gleich erkennbar. Doch meiner Meinung nach sollte unser Augenmerk darauf gerichtet sein, wie wir den Menschen helfen können. Was sie wirklich brauchen. Welche Bedürfnisse sie zu erfüllen versuchen. Unabhängig von einer Diagnose.

Wenn wir jedem Menschen, egal wie sein Gehirn funktioniert, offen und wertschätzend begegnen, unseren Geist öffnen für andere Sichtweisen und Wahrnehmungen, dann spielt es keine Rolle ob jemand hochsensibel, autistisch, hochbegabt oder sonst irgendwie „nicht- neurotypisch“ ist. Das ist das Prinzip der Neurodiversität!  

Als Mitbegründerin der Akademie für Neurodiversität haben wir uns verpflichtet aufzuklären und auszubilden. Denn diese Themenfelder sind so facettenreich wie die Menschen selbst.

 

Geschrieben von Daniela Schmitten – Coach, Fachberaterin für Neurodivergenzen, Entspannungstrainerin, Hypnosetherapeutin,  Gründerin der Akademie für Neurodiversität

www.daniela-schmitten.de

www.childhood-akademie.de

Twice exceptional und Neurodiversität in Unternehmen

Twice exceptional und Neurodiversität in Unternehmen

Twice exceptional bedeutet mehrfach außergewöhnlich.

Der Begriff „Twice exceptional“ ist vielen sicher nicht geläufig. Häufig wird Twice exceptional übersehen, genauer gesagt fehldiagnostiziert: Die Tatsache, dass ein Mensch eine besondere Begabung hat und gleichzeitig eine Beeinträchtigung, wird oft nicht verstanden. Häufig erfolgt auf dieses Thema eine defizitorientierte Sicht statt einer potenzialorientierten. Die neurologische Vielfalt aller Menschen birgt nämlich ein riesiges Potenzial, vorwiegend für Unternehmen. In diesem Artikel erkläre ich, was Twice exceptional eigentlich bedeutet, wie man es erkennt und welche Vorteile neurodivers Teams für Unternehmen haben.

 

Definition Twice exceptional

Der Begriff „Twice exceptional“, abgekürzt 2e, wurde Mitte der 90er-Jahre in die Lexika für Pädagogen aufgenommen und bedeutet übersetzt „mehrfach außergewöhnlich“. Er bezeichnet Menschen mit einer oder auch mehreren Begabungen sowie zusätzlich einer emotionalen, physischen, sensorischen oder psychischen Entwicklungsbeeinträchtigung oder Lern- und Leistungsgeschwindigkeit. Was bedeutet das im Konkreten? Menschen mit Begabungen sind beispielsweise Hochbegabte, Vielbegabte oder auch Hochsensible. Beeinträchtigungen hingehen können Diagnosen wie ADHS, Autismus, Lese- und Rechtschreibschwäche oder Tourette-Syndrom sein.

Das Besondere an 2e-Menschen ist, dass ihre außergewöhnliche Begabung durch ihre Beeinträchtigung weniger hervortreten kann. Sie sind also wie andere Begabte in mindestens einem Bereich sehr sachkundig und talentiert, können aufgrund ihres Defizits diese Stärke aber nicht so deutlich zeigen. Deswegen bräuchten 2e-Kinder gezielte sonderpädagogische Betreuung, um ihnen von Anfang an die Unterstützung zu geben, die sie benötigen. Twice exceptional wird allerdings oft wird übersehen und teilweise ein ganzes Leben lang nie identifiziert. 

Twice exceptional: Checkliste

Eine Diagnose ist sehr schwierig, da die Stärke das Defizit ausgleicht und das Defizit die Stärke unterdrückt. Begabung und Beeinträchtigung sind oft völlig gegensätzlich.

Welche typischen Merkmale ein 2e-Mensch hat, hängt davon ab, welche Doppeldiagnose vorliegt. Zudem ist es schwierig, zwei Kategorien wie „Stärken“ und „Schwächen“ mit eindeutig abgrenzbaren Merkmalen aufzuführen. Beispielsweise ist das Merkmal „Aktiv und unruhig“ der Hochbegabung (Begabung) sowie dem ADHS (Beeinträchtigung) zuzuschreiben. (Quelle: James T. Webb et al., Doppeldiagnosen und Fehldiagnosen bei Hochbegabung, Ein Ratgeber für Fachpersonen und Betroffene, 2. Überarbeitete Auflage)

Um dennoch einen Anhaltspunkt für die Identifizierung von Twice exceptional zu haben, kann diese Liste mit Merkmalen hilfreich sein: https://www.bigmindsunschool.org/resources-2/2e-characteristics/

 

Bei Verdacht von 2e sollte man immer psychologischen Rat aufsuchen. Wichtig ist hierbei jemanden zu finden, der sich gut mit Hochbegabung und Doppeldiagnosen auskennt. Wie oben bereits erwähnt, überschneiden sich Symptome oft. Für eine sichere Diagnose ist ein Experte auf diesem Gebiet unerlässlich, denn er kennt die richtigen Fragen und kann dadurch 2e gezielt identifizieren.

 

Warum ist eine Diagnose überhaupt wichtig? Vordergründig hilft es Betroffenen, ihren Platz zu finden, primär in ihrem Berufsleben. Durch ein tieferes Verständnis zu sich selbst und mit professioneller Unterstützung ist es für 2e-Menschen einfacher, offen und transparent über ihre besondere Situation mit ihrem Arbeitgeber zu sprechen.

Neurodiversität und Hochbegabung in Unternehmen

Wie gehen Arbeitgeber mit hochbegabten und neurodiversen Mitarbeitern um? Die Wahrheit ist, dass sich die meisten Hochbegabten in ihrem Job gar nicht outen, sondern anecken und grundsätzlich nicht verstanden werden. Arbeitgeber sollten ihre Mitarbeiter aufmerksam beobachten und mehr Wissen zu diesem Thema aneignen, um zu lernen, wie man mit Menschen umgeht, die um die Ecke denken, extrem schnell und intelligent sind. Wie sollte man auf Mitarbeiter reagieren, die ständig nach neuer Arbeit fragen, weil ihnen die Aufgaben zu wenig oder zu anspruchslos sind. Hochbegabte hassen Routinetätigkeiten, sehen Lösungen, bevor Kollegen das Problem kennen, wollen oft Großes bewegen und sich nicht in alltäglichen Aufgaben verlieren. Ein Arbeitgeber kann auf so vielen Ebenen davon profitieren, wenn ihm bewusst ist, wie er diese Ressource für sich nutzen kann. Das Ziel ist, ein Verständnis für hochbegabte und neurodiverse Menschen zu schaffen, sodass alle voneinander profitieren und gemeinsam wachsen.

Der Begriff Diversität bezieht sich in unserer heutigen Zeit oft auf Merkmale wie Alter, Nationalität, Geschlecht, Geschlechtsidentität, sexuelle Orientierung und so weiter – Neurodiversität wird dabei oft nicht berücksichtigt, obwohl es ein Gewinn für jedes Unternehmen ist.

Ungewöhnliche Lösungswege sind typisch für Hochbegabte.

Definition Neurodiversität

Was ist eigentlich Neurodiversität? Der Begriff bezeichnet neurologische Vielfalt und zeigt sich in unterschiedlichen Bereichen der Persönlichkeit:

  • Lernen
  • Denkweise
  • Motorik
  • Struktur
  • Interaktion
  • Sprache
  • Wahrnehmung

 

Neurodiversität ist der Überbegriff für das breite Spektrum von unterschiedlichen neurologischen Entwicklungen wie Autismus, ADHS und Dyslexie. Jedoch werden Menschen, die medizinisch und psychologisch der Norm entsprechen als „neurotypisch“ bezeichnet

Welche Vorteile haben neurodiverse Teams

 

Neurodiverse Teams haben vor allem eine höhere kollektive Intelligenz, können sich besser auf Herausforderungen einstellen, arbeiten effektiver und sind in der Lage können qualitativere Entscheidungen zu treffen. Das liegt vor allem auch daran, dass Anpassungen in der Zusammenarbeit mit neurodivergenten Menschen für neurotypische Arbeitnehmer ebenfalls von großem Vorteil sind: reizarme Arbeitsumgebung, transparente Abläufe, klar strukturierte Kommunikation.

Neurodivergente Menschen haben aber nicht nur „besondere Bedürfnisse“, sondern bringen oft außergewöhnliche Stärken mit:

  • hohe intrinsische Motivation für Aufgaben, die ihrem Interesse entsprechen
  • können in einer kurzen Zeit viel Wissen erwerben
  • nehmen neue Perspektiven ein

Wie divers sind Unternehmen wirklich?

 

Menschen mit besonderen Begabungen werden zu oft als Bedrohung angesehen: Hochbegabte stellen hohe Anforderungen an ihren Job, weil er sie fordern und beflügeln soll. Hochsensible gelten als sensibel und zart besaitet. Umfragen haben ergeben, dass Menschen mit einer Hochbegabung eher nicht mit ihrem Arbeitgeber über die eigene Hochbegabung sprechen möchten, weil sie Angst haben, nicht verstanden zu werden oder überzogene Erwartungen an sie gestellt werden. Schubladendenken zeigt sich vor allem in Sätzen wie „Warum weißt du das nicht, du bist doch hochbegabt.“ oder „Warum benötigst du so lange, du bist doch hochbegabt.“ Dabei überlegt ein Hochbegabter vielleicht länger und durchdenkt alle Details, um nichts zu übersehen. Aufgaben werden sauber und möglichst fehlerfrei abgeschlossen – eigentlich der Wunsch eines jeden Arbeitgebers.

Dabei bereichern Menschen mit besonderen Begabungen ein Unternehmen auf so vielen Ebenen. Dennoch sind viele Prozesse in Unternehmen eher für neurotypische Menschen ausgelegt. Nach außen hin leben die Unternehmen Diversität, denken dieses Thema allerdings eher eindimensional. Denn Diversität ist nicht nur Nationalität, Geschlecht oder sexuelle Ausrichtung. Sondern eben auch neurodiverse Menschen.